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Eineinhalb Stunden zur Arbeit. Zwei Pendler aus der Prignitz berichten.

7602 Prignitzer pendeln zu ihrem Arbeitsplatz, zeitgleich kommen 5475 aus anderen Landkreisen hierher.

Um 5.28 Uhr fährt sein ICE am Berliner Hauptbahnhof ab. Milen Detchevs Ziel: Wittenberge, und dann geht es mit dem Taxi zum Perleberger Kreiskrankenhaus. Seit 2003 arbeitet der 49-Jährige hier als Chirurg, seit 2007 pendelt er täglich. Und er ist nicht allein.

Sie kommen aus Stendal, Rostock oder Hamburg, aus dem Nachbarlandkreis oder aus hunderten Kilometern Entfernung: 5475 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte pendeln für ihren Arbeitsplatz in die Prignitz. So die aktuellen Zahlen der Agentur für Arbeit vom 30. Juni 2019. Im Vorjahr waren es noch 65 Personen weniger.

Die meisten Einpendler wohnen in den angrenzenden Landkreisen: Ostprignitz-Ruppin, Stendal und Ludwigslust-Parchim. Sie machen gemeinsam über zwei Drittel der Einpendler aus. Bei den Auszubildenden pendeln 139 in die Prignitz. Die meisten kommen aus Ostprignitz-Ruppin und Stendal, jeweils 38 Personen. Aber auch sechs aus Berlin.

Eine Stunde und 20 Minuten. Solange braucht Milen Detchev von Tür zu Tür. „In Berlin brauche ich genauso lange“, weiß der Chirurg aus seiner Zeit als Assistenzarzt. Medizin studierte der gebürtige Bulgare an der Charité und der Freien Universität Berlin.

Auch wenn er 2003 zufällig in der Prignitz landete, will er diesen Arbeitsplatz heute nicht mehr missen. „In Berlin fallen sehr viele Überstunden an, vor 20 Uhr war ich nie zuhause“, erzählt er. Heute ist er kurz nach 17 Uhr daheim – trotz des Pendelns. Um 15.30 Uhr endet im Krankenhaus Perleberg ein normaler Arbeitstag.

In der Prignitz wohnen? Das ist für ihn und seine Familie keine Option mehr. Vier Jahre hatten sie eine Wohnung in Perleberg, bis er von der guten Bahnanbindung nach Berlin erfuhr. „Ich mag Großstädte“, sagt Milen Detchev. Dort gäbe es mehr Sport- und Freizeitmöglichkeiten, eine vielfältigere Kinderbetreuung. Und abends viele Cocktailbars zur Auswahl. Bis zu zehn Nächte verbringt der Oberarzt aber auch in Perleberg – wenn er in der Rufbereitschaft eingesetzt ist. Bei Wochenenddiensten kommt die Familie zu Besuch. Dann gehts in die Schwimmhalle oder zum Eisessen.

Anders ist es bei Michele Nitzow. Die Prignitzerin liebt ihre Heimat, die Ruhe, die Natur. „Ich bin ein Dorfmensch“, sagt die 23-Jährige. Deswegen pendelt sie seit eineinhalb Jahren täglich nach Hamburg.

Sie ist eine von 7602 Prignitzern, die zu ihrem Arbeitsplatz in einen anderen Landkreis oder gar in ein anderes Bundesland pendeln. In 80 verschiedenen Landkreisen oder kreisfreien Städten Deutschlands befinden sich ihre Arbeitsstellen. Fast ein Drittel bleibt aber in Brandenburg.

Die meisten, nämlich 1805 Beschäftigte, pendeln aus der Prignitz nach Ostprignitz-Ruppin. Das sind nahezu ein Viertel aller Auspendler. Danach folgt Ludwigslust-Parchim. Die drittwichtigste Pendelstrecke führt nach Berlin. Nach Hamburg fahren 431, nach Schwerin 304, in die Region Lüneburg 304, in den Regierungsbezirk Düsseldorf 300. Nach Rostock pendeln 105 Prignitzer. Zudem verlassen 214 Azubis ihre Heimat für ihre Lehrstelle. Der Großteil pendelt nach Ostprignitz-Ruppin. Schwerin ist der vierthäufigste Pendlerort für Azubis, danach folgt Berlin. Nach Hamburg fahren fünf.

Für ihr duales Studium in Hamburg hatte sich Michele Nitzow eine Wohnung in der Hansestadt gesucht. Mit ihrem Abschluss zog sie dann zurück in die Heimat, behielt aber ihren Arbeitsplatz in der Berufsgenossenschaft. Zwar hatte sie auch in der Prignitz nach Jobs gesucht, aber ihr Beamtenstatus gilt nur in Hamburg.

Heute sagt die Personalsachbearbeiterin: „Ich wusste nicht, was auf mich zukommt.“ Um kurz nach fünf klingelt ihr Wecker, um 6.21 Uhr sitzt sie in der Bahn. Eineinhalb Stunden braucht sie zur Arbeit, auf dem Rückweg sind es oft zwei, weil die Hamburger S-Bahn oft unregelmäßig verkehrt. Am Montag hatte ihre Bahn eine Stunde Verspätung. Zwei, drei Mal musste sie sogar in Hamburg bei Freunden übernachten, da kein Zug mehr fuhr.

Immerhin wartet sie nicht allein. „Das Gute ist, man ist in Gemeinschaft“, sagt sie, „es pendeln viele aus der Prignitz.“ Am Bahnhof kennt sie mittlerweile einige Leute – Junge wie Ältere, Zahnärzte, Beamte, alles Pendler. „Zu jeder Uhrzeit trifft man jemanden“, sagt Michele Nitzow.

Was sich zudem bei den Ein- wie Auspendlern zeigt: Männer pendeln öfter als Frauen. Von den 7602 Auspendlern sind 37 Prozent Frauen. Bei den Einpendlern ist das Verhältnis ausgeglichener, 44 Prozent der Auswärtigen sind weiblich.

Als Belastung empfinden jedoch der Arzt und die Beamtin die Bahnfahrten nicht. „Ich sehe das nicht als verlorene Zeit. Die zwei Stunden kann ich für Dinge nutzen, für die ich Zuhause keine Zeit habe“, sagt Milen Detchev. Michele Nitzow nutzt die 50 Minuten Bahnfahrt am Morgen für etwas Extraschlaf, am Abend liest oder rätselt sie, trinkt mit anderen Pendlern mal einen Wein. Trotzdem will sie nicht ewig so weiter machen, sagt sie. Sie hofft, bald ein paar Tage in der Woche im Homeoffice arbeiten zu können.