Ein erfahrener Mordermittler aus Neubrandenburg spricht im Interview über ungeklärte Fälle.
Frank Taggesell (63) leitet seit 25 Jahren die Mordkommission im Polizeipräsidium Neubrandenburg. Im Interview erklärt der Erste Kriminalhauptkommissar, warum manche Morde auch nach Jahrzehnten nicht aufgeklärt werden konnten und wie er als Ermittler damit umgeht.
Was hat es mit der Holzaxt in der Vitrine auf sich?
Die hat mal ein Kollege bei einem meiner ersten Mordfälle angefertigt. Ein Mann war mit einer Axt erschlagen worden. Mit dem Modell haben wir den Tatablauf von den beiden Tätern nachstellen lassen. Wir wollten denen kein echtes Beil geben.
Nehmen sie die Axt als Erinnerungsstück mit, wenn sie im Juni in Pension gehen?
Nein. Ich bin kein Trophäensammler.
Und was ist mit Akten zu ungeklärten Taten?
Auch die nicht. Die ungelösten Fälle werden immer präsent bleiben. Das ist nicht so, dass ich hier einfach die Tür zu mache und dann ist Schluss. Ich kenne die Vorgänge im Detail. Die habe ich im Kopf. Das letzte Lebenszeichen von Anne Stephan zum Beispiel, einer Krankenschwester aus Dresden, gab es am 20. Juli 1993. Ihre Leiche wurde im März 1994 gefunden.
Ungeklärt ist auch noch der Mord an einem Geldboten vor einem Supermarkt in Neubrandenburg.
Das war am 13. Oktober 1997. Der Mann wurde von zwei maskierten Männern mit Kalaschnikows erschossen. In Berlin gab es eine Truppe, die ähnliche Taten begangen hat. Aber wir konnten denen nie nachwiesen, dass sie auch den Raubmord an dem Geldboten begangen haben.
Gibt es Fälle, die ihnen besonders nahe gegangen sind?
Das sind vor allem die Vermisstenfälle wie der von Gerda Wiese aus Priborn. Sie ist im Dezember 2015 verschwunden. Das ist also noch relativ aktuell. Man rechnet tagtäglich damit, dass da etwas passieren könnte und es vielleicht einen Leichenfund gibt. Aber darauf sind wir vorbereitet.
Ich weiß, dass der Fall in guten Händen ist, wenn ich gehe. Da sind ja noch Kollegen, die schon vor vier Jahren intensiv mitgearbeitet haben. Die kennen sich aus und könnten sofort weiter an dem Fall arbeiten. Es wird niemand vergessen.
Wann haben Sie denn das letzte Mal an den Fall Gerda Wiese gedacht?
Das war vor wenigen Tagen. Ich hatte ein Telefonat mit der Tochter von Frau Wiese. Es ging um eine Medienanfrage. Manchmal genügt auch ein Stichwort. Es muss nur jemand anderes vermisst sein oder es wird nur mal der Ort Priborn genannt. Dann ist der Fall sofort wieder präsent.
Warum sind es gerade die Vermisstenfälle?
Weil das Fälle sind, die auch für die Angehörigen sehr schwierig sind. Ich denke da an den Fall Susann Jahrsetz. Ein 10 Jahre altes Mädchen mit einem auffälligen Muttermal im Gesicht. Sie verschwand im August 1994. Ihre Leiche wurde erst vier Jahre später in einem Abwasserschacht entdeckt. Nachdem der Leichnam gefunden wurde, war der Schmerz bei den Angehörigen natürlich immer noch da, aber sie haben einen Ort an dem sie trauern können.
Ich glaube, das hilft um mit dem schrecklichen Geschehen anders umgehen zu können. Es wird aber immer eine Wunde bleiben.
Aber was macht das mit Ihnen als Ermittler?
Bei Gerda Wiese haben die Kollegen ohne Ende Stunden geschrubbt, sie haben dort wirklich alles getan. Es waren zu Hochzeiten bis zu 25 Ermittler dran. Wir haben fast jeden Einwohner im Ort befragt und in den Nachbarorten und an den Zufahrtsstraßen nach Zeugen gesucht. Über mehrere Wochen hinweg haben wir wohl mindestens 500 Leute befragt.
Aber im Endeffekt ist nichts bei rumgekommen. Wir haben sie nicht gefunden und konnten nicht aufklären, was mit ihr direkt passiert ist. Das ist natürlich unbefriedigend.
Taucher damals sämtliche Teiche und Gräben abgesucht, Hundertschaften der Bereitschaftspolizei die Wälder durchforstet. Haben Sie manchmal den Gedanken, etwas übersehen zu haben?
Dieses Gefühl, das einem ein Detail entgangen sein könnte, hat man immer. Deswegen sind Ermittlungen in solchen Fällen immer Teamarbeit. Es gibt eine Arbeitsteilung, aber im Grunde genommen spricht man über alles. Jeder muss über alles Bescheid wissen.
Die Polizei geht von einem Verbrechen aus. Wie sind sie zu dieser Einschätzung gekommen?
Das sind die Gesamtumstände. Frau Wiese hatte ihren Sohn mit Familie am 6. Dezember zum Nikolausessen eingeladen. Sie wollte Ente machen. Der Braten lag schon zum Auftauen in der Spüle. Sie ist dann noch einmal in den Wald spazieren gegangen. Dafür gibt es Zeugenaussagen. Das konnten wir alles zurückverfolgen.
Aber es gab schon Fälle, wo Menschen ihr Verschwinden vorgetäuscht haben. Warum können Sie das bei Frau Wiese ausschließen?
Sie hat nichts mitgenommen. Alles was notwendig wäre, um sich abzusetzen und ein neues Leben zu beginnen, lag noch im Haus. Aus unserer Sicht gab es für die Frau auch gar keinen Grund für so einen Schritt. Es kann sehr viel passiert sein. Frau Wiese kann ein Zufallsopfer geworden sein. Sie kann sich auch mit jemanden getroffen haben und dann ist zu einer Tat gekommen. Da ist alles möglich.
Gab es einen Moment, wo sie das Gefühl hatten, kurz vor dem Durchbruch zu stehen?
Auf alle Fälle. Es hat für uns nachvollziehbare Verdachtsgründe gegeben, dass da jemand mit dem Verschwinden der Frau etwas zu tun haben könnte. Aber wenn man das nicht durch Spuren oder Zeugenaussagen untermauern beziehungsweise belegen kann, muss man am Ende sagen: O.k., bis hierhin aber weiter geht es nicht.
Was kann bei solchen Fällen noch weiterhelfen?
Der Leichnam ist das Puzzelteil, das wir bräuchten. Haben wir das Opfer, besteht die Chance daran Spuren etwa an der Kleidung zu finden. Die DNA-Analyse wird immer besser. Aber auch DNA ist nicht ewig haltbar. Je mehr Zeit vergeht, umso schwieriger wir die Aufklärung.
Von Gerda Wiese sind alle notwendigen Daten, um sie identifizieren zu können, in einer Datenbank der Polizei zu Vermissten und unbekannten Toten hinterlegt. Wenn bundesweit irgendwo eine unbekannte Tote gefunden wird, wird auch immer Gerda Wiese mit abgeglichen.
Inwieweit belastet es sie, wenn sie einen Vermisstenfall oder einen Mordfall nicht aufklären können?
Insbesondere bei Vermisstenfällen hat man als Ermittler über Wochen und Monate hinweg engen Kontakt zu den Angehörigen. Das ist auch für uns nicht immer einfach. Wir reden untereinander natürlich auch über die Geschehnisse.
Aber wenn ein Fall ausermittelt ist, also alle Spuren und Hinweise abgearbeitet sind, muss man als Ermittler auch Abstand gewinnen und einen Schnitt machen. Dieser professionelle Umgang ist ganz wichtig, sonst verliert man den Überblick und macht Fehler bei der Arbeit.
Nehmen sie sich manchmal in einer ruhigen Minute die Akte eines ungeklärtes Falles vor und gehen alles noch mal durch?
Schön wärs. So eine ruhige Minute habe ich nicht. Die hat keiner bei uns im Kommissariat. In Hamburg dagegen gibt es so eine Truppe, die nur ungeklärte Altfälle sogenannte “Cold Cases” bearbeitet. Das würde ich mir auch bei uns wünschen.